Kolumne
Die Welt da draußen und ich
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Die Welt da draußen und ich
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Die Welt da draußen und ich
Anfang Juni 2020 Schule
7:49.
Wir sind fertig mit Frühstück.
Mein Sohn steht auf.
„Also, bin im Unterricht.“
„Dass du keine Socken anhast weißt du, oder?
Bin irritiert.
„Bis halb zehn bitte keine Störung.“
Er legt den Finger auf seine Lippen.
„Pst! Ok?!“
Schließt die Zimmertür.
Bahm!
Da stehe ich also.
Hatte ohne nachzudenken meine Frage gestellt.
Ganz schön dumm.
Für Homeschooling benötigt man keine Socken an den Füßen.
Was womöglich der eine oder andere Manager unterhalb der Gürtellinie trug, wenn er im Online-Meeting saß, wer wusste das schon…?
Stelle die Milch in den Kühlschrank.
Die Zimmertür geht.
„Herr Schwallmann fängt erst um 8 Uhr mit dem Unterricht an.“
„Ja, wie?“
Mein Sohn zuckt die Schultern.
„Abwesenheitsnotiz. Wahrscheinlich keinen Bock. Der liegt bestimmt noch im Bett.“
Bin fassungslos.
„Na, wenigstens klappt das jetzt überhaupt mit der Abwesenheitsnotiz. Vor ein paar Tagen hätten alle einfach den PC ausgemacht, wenn kein Lehrer da.“
„Sag mal, wie wollt ihr eigentlich Abi machen?“
Mein Sohn schnappt sich eine Banane.
„Bin wieder im Zimmer, tschau.“
Setze mich an den Tisch.
Normalerweise hätte mein Sohn vor 30 Minuten die Wohnung verlassen.
Sicher mit Socken.
Finde es nur noch eigenartig.
Alles reduziert sich auf die Wohnung.
Glaube, dass es sicher bald aus der Mode kommt, das Haus zu verlassen.
Höre lautes Gelächter aus dem Zimmer meines Sohnes.
Der Unterricht machte offensichtlich Spaß.
Freue mich für ihn.
Bin beruhigt.
Nein, die Jugend hat es nicht leicht heutzutage.
Prustend reißt mein Sohn die Zimmertür auf.
„Hey, der Luca hat eben in unserem Meeting angeklopft. Wollte mal sehen, was geht. Der Schwallmann hat ihn nicht reingelassen. So krass, der hat immer wieder angeklopft.“
„Ist der Luca nicht in einer ganz anderen Schule? Und braucht man nicht sowieso die Zugangsdaten für den Online-Unterricht?“
„Muss jetzt nix dazu sagen…“
Mein Sohn schließt die Tür.
Lehrer zu sein in der heutigen Zeit dürfte vergleichbar sein mit…
Ich überlege.
Beim Wählen der Mitspieler auf dem Kickplatz wurden immer die Besten ausgesucht.
Ja, so war das früher.
Bei ungerader Zahl blieb einer übrig.
Das war dann der Schiedsrichter.
Ganz automatisch.
Jeder, der diese Rolle zugeteilt bekam, war in aller Regel unzufrieden mit der Gesamtsituation.
Bin mir sicher, das momentane Lehrerdasein muss dem des Schiedsrichters sehr nahe kommen.
Zucke zusammen.
Mein Sohn hatte die Zimmertür aufgerissen.
„Mama, so krass! Der Niklas hat einfach die Frau Schmoll stummgeschaltet.“
Er lacht.
Bekommt kaum Luft.
Na zumindest hatte es einen Lehrerwechsel gegeben.
War doch schon mal was.
Bin optimistisch.
„Ach, seid ihr schon im nächsten Unterricht angekommen?“
„Die macht nur noch Mundbewegungen, sieht aus wie ein Fisch…“
Bleibe zuversichtlich.
Mein Sohn krümmt sich vor Lachen.
„Das geht jetzt schon drei Minuten so…!“
„Sag mal, ist Online-Unterricht auch zum Lernen da?“
Mein Sohn verschwindet im Zimmer.
„Frau Schmoll spricht wieder!“
Geht doch.
Schaue auf die Uhr.
Eine Stunde reicht fürs Kochen.
„Was machst du denn schon hier?“
Mein Sohn lehnt in der Tür.
„Die Katze von Herrn Henkel latscht ständig über seine Tastatur. Auf einmal - zack - Kamera weg. Plötzlich die Köpfe seiner Zwillinge auf dem Bildschirm. ‚Papa, wir brauchen jetzt den Laptop‘. ‚Raus hier, später‘. Und dann wieder die Katze auf der Tastatur…“
Glaube es nicht.
„Aber die Zeit ist doch noch gar nicht rum.“
„Einer nach dem anderen hat sich vom Meeting verabschiedet. Reicht wohl.“
„Ihr habt noch eine ganze Stunde! Und euer Lehrer?“
„Herr Henkel hat das dann auch eingesehen.“
„Bitte was?“
„Der hat sich vor zehn Minuten rausgebeamt. Wahrscheinlich lange Mittagspause. Ok, ok. Er hat uns noch Aufgaben mitgegeben. Der muss sich jetzt um seine Zwillinge kümmern.“
Unsereins hat sich früher im Klassenschrank verbarrikadiert.
Den kleinsten Mitschüler unter dem Lehrerpult versteckt.
Die Kreide verschwinden lassen.
Ein Furzkissen ausgelegt…
Bleibt zu hoffen, dass die bis dato mangelhafte Meeting-Software schnellstmöglich modifiziert wird.
Fragt sich nur, wie lange Lehrer in der Lage sein würden, derartige Umstände auszuhalten?
Wir wollen in der Hoffnung bleiben.
Einen Wunsch habe ich noch.
In baldiger Zukunft.
Einen Vormittag ganz alleine.
Nur für mich.
In meiner Wohnung.
Heiligabend 2020
„Ist die Pfanne heiß genug?“
„Ja, die Kartoffeln können rein…“
Es zischt und brutzelt.
Verstehen kaum unser eigenes Wort.
Das angebratene Paprikagemüse im heißen Ofen geparkt.
Alle würden später fragen:
„Na, was hattet ihr zum Essen? Unsere Gans war grandios!“
Nein, kein ähm, oder so!
„Bratkartoffeln und Gemüse… und Salat.“
Dieses Mal steht meine Antwort.
Klar wie Kloßbrühe.
Bin mir sicher.
Nur noch das Besteck auf den Tisch.
Spüre, es bahnt sich etwas an.
Seit einigen Minuten schon.
Wohl wieder einsame verirrte Seelen, die nicht allein ins Licht finden.
Alles kribbelt, bin genervt.
Man, nicht mal Weihnachten hat man seine Ruhe.
Okay, Check ist nötig.
Ab ins Nebenzimmer.
Mein Blick fällt sofort auf das Poster.
Ein Geschenk von meinem Sohn.
Mein Sohn, die wandelnde Datenbank alles betreffend, was Star Wars oder James Bond angeht.
Mein Blick hängt immer noch am Poster.
Ray, die Schrotthändlerin von Star Wars.
Die Jedi mit dem Lichtschwert.
Klar fokussiert und entschlossen.
Yeah, ich lege los.
Tatsächlich alles Seelen, die ins Licht wollen.
Warum ausgerechnet jetzt?
Ah!
Kein Problem, rufe die geistige Welt.
Bitte um konkrete Hilfe (Heiligabend, Familie wartet und nicht nur die…)
Es muss geholfen werden.
Diese Gegensätzlichkeit!
Zur hiesigen Welt.
Endlich.
Die letzte Seele hat ihren Weg ins Licht gefunden.
Bin erleichtert.
Spute mich ins Wohnzimmer zu kommen.
Der Tisch ist gedeckt.
Sehr gut, ich hatte nichts vergessen.
Der Laptop mitten auf dem Tisch.
„Wann geht das los mit der Jerusalema-Challenge?“
„Was?“
Mein Freund in der Küche.
Zischen aus der Pfanne und Getöse aus der Dunstabzugshaube.
Blicke auf den Laptop.
Lese:
-Konferenzraum kann jetzt betreten werden-
„Wie geht das, kannst du mal helfen?“
Es kribbelt erneut im Ohr.
Der nächste Schwung von hilfesuchenden Seelen.
Schicke sie nebenbei ins Licht.
Dampf kommt aus der Küche und mein Freund hinterher.
Beugt sich über den Laptop.
„Guckst du mal nach den Bratkartoffeln…?“
Übernehme.
Komme zurück aus der Küche.
„Huhu, fröhliche Weihnachten…“
Mein Freund steht vorn übergebeugt am Tisch.
Schaut gespannt auf den Bildschirm seines Laptops.
Das Bild schwarz-weiß.
Es ruckelt.
Das einzig gute ist der Ton.
„Fröhliche Weihnachten“, schallt es aus dem Laptop.
Es ist wohl Zeit zurückzuwinken.
Die Kartoffeln!
Renne in die Küche.
Alles im grünen Bereich.
Eigentlich sollte ich jetzt meditieren, so wie die anderen vielleicht...
Die Rauhnächte wahrnehmen, oder so…
Tue, glaube ich, alles auf meine Weise und das in jedem Falle real.
Bin eben auch Familienmutter.
Crazy.
Zurück ins Wohnzimmer.
Der Blick in den Laptop ist überwältigend.
Die ganze Familie in weiter Ferne fröhlich versammelt.
„Oma mit Hirschgeweih! Habt ihr alle supersüßen Kopfschmuck!“
Hoffe, wir auch.
Prüfe nach, ob meine Geschenkpackung auf dem Kopf noch richtig sitzt.
Mein Freund trägt Weihnachtsbaum und mein Sohn Nikolausmütze.
Alles bestens.
„Wie lustig! Unsere Omma hat Reizdarm und sitzt zuhause. Ja, aber sonst geht’s uns gut, danke.“
Alle prosten ins Bild!
Das Bild ruckelt.
Ich glaube, die Kartoffeln in der Pfanne auch.
Renne in die Küche.
„Bin gleich wieder da…“
Zum Glück! Kartoffeln o.k.
Schalte runter.
Fühle rein, alles gut.
Seelen wohl alle untergebracht.
Weiter geht’s.
„Mama, bei dem Tanz mache ich nicht mit, ist mir zu blöd.“
Mein Sohn streikt.
Winkt trotzdem tapfer in den Laptop.
Mit Nikolausmütze!
Alle winken, also aus dem Laptop raus und wir rein…
„Frohe Weihnachten!“
Deutlich hören wir das Lied.
„Los geht’s. Jerusalema….“
Alle Intensivstationen, jede Polizeistelle und ganz Afrika tanzt danach…
Eins, zwei, drei, vier…
„Arme hoch…“
Mein Freund und ich grinsen uns an.
Und zurück, zwo, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht…
„Ich hab Hunger.“
„Ich auch.“
Mein Sohn hat sich ins Zimmer verkrochen.
Umgehend verabschieden wir uns aus Zoom.
Laptop aus.
Wir drei sitzen am Tisch.
Mein Sohn lacht.
„Ehrenhafte Kartoffeln, goldgelb, mmh. Ehre euch beiden…“
Tapfer trägt er seine Nikolausmütze.
Mein Freund lacht.
Der Weihnachtsbaum auf seinem Kopf klingelt und wackelt.
Stolz sitze ich da, mit der Geschenkpackung auf meinem Kopf…
„Guten Appetit! Alles ein bisschen crazy ihr Lieben. Aber das wird, wartet ab, es wird. Und es wird gut…“
Silvestertanz 2020
Alle verfügbaren Lichterketten sind installiert.
Ein leichter Druck auf den Schalter genügt.
Alles strahlt.
Bin begeistert.
„Es wird retro!“
Mein ganzer Stolz vor mir auf dem Tisch.
Eine Lichtorgel und die Siebziger-Jahre-Discokugel.
Beide für heute besorgt.
Ein Kindheitstraum.
Wollte ich schon immer haben.
Bunte Lichter tanzen durchs Wohnzimmer.
Fantastisch!
„Hey Mama, wie cool ist das denn…?“
Der mitleidige Blick meines Sohnes trifft mich.
Muss kichern.
Fühle mich gerade einfach gut.
Sieht so aus, als käme ich ohne energetische Widrigkeiten über den Jahreswechsel.
Mein Freund grinst.
„Ein bisschen mehr Begeisterung bitte, ja!“
Unsere Gäste hatten leider kurzfristig abgesagt.
Schade.
Wir hatten uns so gefreut.
„Tja, fünf Personen aus zwei Haushalten, is nich. Also keine Tanzgroßveranstaltung.“
Mein Freund testet Modus II der Lichtorgel.
„Wir sind sowas von korrekt, nämlich drei Personen aus einem einzigen Haushalt. Unsere Bundeskanzlerin wäre stolz auf uns…“
Mein Sohn schnaubt verächtlich.
Bunt und gleichmäßig dreht sich die Discokugel.
Die passende Playlist dazu kommt aus dem Nebenzimmer.
Drehe die Lautstärke auf.
Schließlich ist Silvester!
Tischfußball.
„Wat is hier mit Gladbach…?“
„Und die Abwehr von Pauli heute nicht in Bestform… aaaber was sehen wir da?“
„Foooouuul!“
Bin entweder ahnungslos oder inkompetent.
„Foul beim Tischfußball, sowas gibt’s?“
Mein Sohn und mein Freund heftig an den scheppernden Griffen kurbelnd …
Das Spiel inzwischen diagonal auf dem Tisch verrutscht.
„Hey, hey, die Tischdecke, aufpassen!“
„Welch Glanzparade des Gladbacher Keepers…“
„Und jetzt der Gegenkonter. TOOOR!“
Bin mir sicher, Ernst Huberty hätte seine wahre Freude daran.
Mein Freund und ich tanzen durchs Wohnzimmer.
Die bunten Punkte der Lichtorgel tanzen an der Zimmerdecke.
Drehe die Musik weiter hoch.
Mehrfamilienhaus?
Egal!
Schließlich ist Silvester!
Schaue aus dem Fenster.
Um uns herum die gewohnten Mehrfamilienhäuser.
Geschätzt über fünfzig Wohnungen.
Alles dunkel.
Waren alle Bewohner ausgeflogen?
Oder tatsächlich im Bett?
Echt spuky.
Nicht zu fassen.
Wir tanzen weiter.
Punkt zwölf.
Und wir haben Champagner!
„Ein gutes neues Jahr!“
Zu dritt stehen wir auf dem Balkon.
Die Musikbox mitsamt der Beleuchtungsanlage dabei.
Wir umarmen uns.
Ich rufe laut in die Nacht hinaus.
„Prost Neujahr! Ein wunderschönes neues Jahr für alle!“
Immer noch ist es dunkel.
In allen Häusern.
Niemand ruft zurück.
„Ein Feuerwerk da vorne.“
„Noch eines.“
„Vereinzelte Silvesterrevoluzzer, na immerhin…“
Weiterhin totale Dunkelheit und Stille.
„Wie kann sowas sein? Wo sind die Menschen?“
„Hier sind überall Balkone. Keiner draußen. Hey man, wirklich alles Almans.“
Mein Sohn war immer schon gut im Erfassen des Wesentlichen.
Er dreht die Musik lauter.
„Hey, das sind wir auch.“
„Was?“
„Almans…“
Wir lachen.
Tanzen auf dem Balkon.
Es ist hell.
Hier bei uns.
Bunte Punkte tanzen im Zimmer und auf dem Balkon.
Wir singen.
Sind ausgelassen.
Laut und vernehmlich verkündet jemand in die Silvesternacht:
„Freiheit!“
Das ist mein Freund.
Ich gebe ihm einen Kuss.
„Die kommt. Ein bisschen Geduld noch du lieber Schatz! Ein gutes Neues Jahr für dich, für uns alle…“
Es ist acht, ich stehe auf.
Alles schläft.
Das Jahr ist noch neu.
Mache mir einen Kaffee und gehe raus.
Draußen ist es nebelkalt und bedeckt.
Eine unwirkliche Stille umgibt mich.
Lasse Gedanken kommen und gehen.
Was wohl gerade alles so passierte, ohne dass wir es mitbekommen?
Und wenn es lauter Dinge wären, die uns eine wundervolle Zukunft brächten?
Und wenn wir einfach davon ausgingen, das alles ganz anders wäre?
Was das auch immer sein würde.
Es würde spannend.
Und es würde gut.
Es IST spannend.
Diese Gedanken stimmen mich freudig.
Ein wenig Geduld brauchen wir wohl alle noch…
In den stillen Moment kommt ein Vogelpärchen geflogen.
Es kam aus dem Nichts.
Umkreist mich einige Male.
Laut flatternd erhebt sich ein Vogelschwarm neben mir aus den Bäumen.
Er fliegt in die Weite des Himmels.
Bleibe kurz stehen.
Mein erster Gedanke.
Leben und Bewegung.
Bewegung und Leichtigkeit.
Die brauchen wir alle ganz besonders.
Bewegung und Leichtigkeit in Richtung Zukunft…
Ende Januar 2021
Training für die innere Mitte
Sitze in meinem Zimmer.
Genieße den kurzen Moment Ruhe.
Handwerker hatten sich angemeldet.
Möglicher Wasserschaden.
„So ein Sch…! Mit dem Internet!“
Das ist mein Sohn.
Stinksauer.
Rennt über den Flur.
„Drei, ja genau drei Mal bin ich aus dem Meeting rausgeflogen! Wollte gerade was sagen.
Und genau dann, Sch…! Wo ist die Nummer von Jodafon? Mir reicht’s! Hab‘ mir den blöden Online-Unterricht auch nicht ausgesucht…“
Bevor ich gucken kann zückt er sein Handy.
Verschwindet in seinem Zimmer.
„Nein!... Ich sagte Nein! Störung! STÖÖÖÖRUNG!“
Er musste die Hotline erreicht haben.
Kommt zurück.
Den Hörer laut gestellt.
Verzerrte scheppernde Musik ist zu hören.
Warteschleife.
Mein Sohn pumpt.
„Mama, kann es sein, dass die Musik hier aggressiv macht?“
„Die Wartezeit beträgt fünfzehn Minuten“, schallt es aus dem Hörer.
„Toll!“
„Komm leg auf und geh in deinen Unterricht! Ich versuch’s!“
Tippe die Nummer von Jodafon in mein Handy.
Stelle es laut.
Scheppernde Musik, wie eben.
Stelle fest, mein Sohn hatte Recht.
Die Musik macht aggressiv.
Latente Anspannung.
„Die Wartezeit beträgt fünfzehn Minuten.“
Mein Sohn reißt die Zimmertür auf.
„Geht wieder nicht!“
Das Telefon vom Festnetz geht.
„Guten Morgen! Ja wegen des Wasserschadens… Bis da jemand kommt, das dauert mindestens eine Woche.“
„Hallo! Eine Woche?
„Das ist so, wegen Corona.“
„Na großartig!“
„Die Versicherung klärt, ob ein Lüftungsfehler vorliegt.“
„Ne, oder?“
Lüften, Stoßlüften, Heizen, was wollten die sonst noch?
„Bitte schauen Sie, dass schnellstmöglich jemand vorbeikommt.“
„Bei Lüftungsfehler haften Sie selber, das wissen Sie, gell!“
„Einen guten Tag!“
Ich schnappe nach Luft.
Meine Ruhe ist dahin!
Scheppernde Musik schallt aus meinem Handy.
17 Minuten und 35 Sekunden Warteschlange!
„Gibt’s das?“
„Jodafon, mein Name ist… (verstehe nicht), was kann ich für Sie tun?“
Mein Sohn steht immer noch in der Tür.
Mein flehender Blick kommt an.
Er übernimmt.
„Ja, das Internet geht nicht richtig. Okay. Datenabgleich. Wir hatten das Modem schon ein und ausgeschaltet. Ja ja, alles schon gemacht…“
Er drückt mir den Hörer in die Hand.
„Ich schau‘ ob ich ins Meeting reinkomme, habe da im Handy noch Gigabytes.“
Zucke mit den Schultern.
„Ja hallo, ja ich bin die Inhaberin des Anschlusses.“
Der Herr von Jodafon ist nett und dynamisch.
Klärt mich in Windeseile auf.
„Äääh, sorry, versteh nicht mal die Hälfte…“
Mein Kamm schwillt.
„Hören Sie, mein Sohn hat Online-Unterricht. Das sollte jetzt sehr bald funktionieren, ok?“
Der junge Herr von Jodafon ist nicht nur nett und dynamisch.
In gewissem Maße ist er auch direkt .
„Genau, da sind wir uns einig. Ihr Vertrag ist hoffnungslos veraltet.“
Ääh was, einig?
Was konnte er wohl meinen?
„Ihr Internet ist viel zu langsam.“
„Ja wie…?“
„Sie brauchen ein viel schnelleres Internet für Ihren Sohn. Der Online-Unterricht wird noch eine Weile gehen, das wissen wir alle.“
Er hüstelt.
Setzt erneut an.
Seine Sprachgeschwindigkeit steigert sich in ein Grand Finale.
„Mit unserem Superangebot…“
„Halt!“
Ich pumpe.
Laut und vernehmlich.
„So, dann gehört ihre Firma wohl auch zu denen, die sich eine goldene Nase an der Situation verdienen. So viele arbeiten zur Zeit online. Wer hat schon die Wahl? Ich habe den Verdacht, Sie wollen mir einen neuen Vertrag verkaufen, stimmt’s? Zwei Jahre Bindungsfrist!“
„Glauben Sie, ein Superangebot, anders wird es schwierig, glauben Sie mir…“
Bin mir sicher.
Gleich würde ich platzen.
Das andere Telefon klingelt.
„Moment!“
Eigendiagnose: Blutsturz.
„Hallo es geht doch um Ihren Wasserschaden. Wann können wir den Handwerker schicken?“
„Melde mich später…“, lege auf.
„Hallo? Hallo? Sind Sie noch dran?“
Immer wieder ruft der nette dynamische Mann von Jodafon ins Telefon.
Meine Stimme versagt.
Kämpfe mit den Tränen.
Himmel hilf!
„Was ist denn jetzt los? Ist das wegen mir? Ich bin doch nett zu Ihnen.“
War das jetzt tatsächlich Verständnis vom netten dynamischen Mann von Jodafon?
Stammle ins Telefon.
„Machen Sie einfach, ja, ja, so das alles geht, ok? Ich kann sowieso nix machen.“
„Es ist ganz einfach, glauben Sie mir. Momentan ist es für niemanden leicht. Ich schicke ihnen eine mail. Da ist alles drin.“
Ich atme.
Was war das gerade?
Der Wahnsinn der Welt da draußen?
Eine Prüfung?
Mitte halten…hey wie geht das bei sowas?
Schwachpunkttrigger?
Ich atme.
Und atme.
Mein Sohn kommt aus dem Zimmer.
„Mit den Gigabytes aus dem Handy geht es jetzt ganz gut. Verbindung hält.“
„Äh, schön.“
Ich atme.
Mein Telefon klingelt.
Fasse es nicht.
„Hier noch mal Jodafon.“
Der nette dynamische junge Mann!
„Ich habe Ihr Angebot modifiziert. Sie bekommen 140 Euro gutgeschrieben, ok? Und… den Receiver müssen Sie nicht nehmen, den wollen Sie ja sowieso nicht stimmt’s? Kein Problem, ich nehme ihn raus. Also Sie bezahlen für alles monatlich einen Euro mehr als bisher. Und Sie haben richtig schnelles Internet. Ist das jetzt gut so für Sie?“
Uuups!
Bin verwirrt.
„Machen Sie das ja, äh danke, vielen Dank… ja, herzlichen Dank.“
„Einen schönen Tag für Sie!“
Früher hätte ich mich einfach gefreut.
Weiß gerade nicht, was ich von allem halten soll.
In mir keimt die Hoffnung, alles könnte doch einen guten Ausgang nehmen.
Falle aufs Sofa.
Werde heute nur noch meine Mitte zu halten…
Ein Tag später, Ende Januar 2021
Der Wasserschaden ist abgehakt.
War keiner.
Kein Dröhntrockner im Zimmer!
Alles gut, Glück gehabt.
Danke!
Und…das Internet steht!
Gut so.
Online-Unterricht funktioniert.
Höre immer noch die überwältigte Stimme vom Mann aus der Technik des Internetanbieters.
Gestern Nachmittag.
„Ja, Ihr Internet geht. Wie haben Sie das überhaupt gemacht? Was für einen krassen Tarif haben Sie da abgestaubt? Ich werde direkt neidisch. Wie sind Sie bloß an so ein Angebot rangekommen? Also jetzt wirklich mal, echt. Ein Traum ist das, ein Traum!“
Dann hatte der nette, sympathische junge Mann von Jodafon wohl alles gegeben, oh la la!
Jetzt müssen nur noch neue Telefonakkus her.
Wollte es schon seit Wochen machen.
Werde die einheimische Wirtschaft unterstützen.
Ehrensache.
Der Elektromarkt vor Ort hat geöffnet.
Lese es im Internet.
Ist demnach wohl systemrelevant, irgendwie.
Bin erstaunt.
Das man so etwas im Moment tatsächlich findet!
Fahre sofort los.
Betrete die Eingangshalle des Einkaufscenters auf der grünen Wiese.
Linkerhand der Elektromarkt.
Stehe vor der großen Glastür und stutze.
Groß und deutlich steht es vor mir.
Das Schild.
-Bitte rufen Sie an oder bestellen Sie im Internet-
Das also fällt unter die Rubrik „geöffnet“.
Ok, habe verstanden.
Die Tür öffnet sich.
Direkt dahinter eine Glasscheibe mit Durchreiche.
Alles menschenleer.
Ich blicke in die sparsam beleuchteten Verkaufsräume.
Eine fahle neonbeleuchtete Tristesse.
Von weiter hinten nähert sich eine junge Frau.
Mal wieder alles spuky.
„Grüß Gott, bekomme ich bei Ihnen Akkus? Telefonakkus?“
Die junge Verkäuferin steht jetzt direkt gegenüber hinter der Glasscheibe.
Setze noch mal an.
„Äh, Telefonakkus, die sind doch gleich da hinten, also sechs Stück brauche ich. Geht das?“
Könnte ja sein, dass es klappte…
„Ich darf Ihnen nichts verkaufen. Also so nicht. Sie müssen anrufen.“
„Anrufen?“
„Ja, anrufen. Und hier rein dürfen Sie auch nicht.“
„Ah ja, auch nicht. Klar, ja, also sechs Akkus, wissen Sie…?“
„Beraten darf ich Sie auch nicht.“
„Auch nicht, ok. Also dann ruf ich Sie mal an, ja? Geht das dann?
„Ich darf Sie aber nicht beraten.“
„Ist ok, ich rufe Sie an.“
„Mein Kollege berät Sie.“
„Gut. Ich rufe Sie an. Also sechs Akkus, gell?“
Gehe ein paar Meter zurück.
Stehe draußen und nehme erleichtert die Maske ab.
Atme tief durch.
Spüre wie gut das tut.
Wähle die Nummer des Elektromarktes.
Ein freundlicher junger Herr meldet sich.
Beginne sofort mit meinem Anliegen.
„Grüß Gott. Sechs Telefonakkus brauche ich. Übrigens ich stehe hier direkt vor Ihrer Tür. Ihre Kollegin sagte mir bereits, also ich war schon drin…ich meine fast…“
„Ich verbinde zur Kasse…“
„Nein, halt! Ihre Kollegin sagte, Sie müssen mich beraten…“
Zu spät!
Mist!
Höre die Stimme der jungen Frau.
„Hallo. Ich bin’s von eben. Von draußen vor der Glastür. Also ich brauche sechs Telefonakkus. Diese Ni Me, sonst wie. Die mit Nickel. Sie wissen, was ich meine?“
„Mein Kollege hat Sie beraten?“
„Nein, bitte verkaufen Sie mir einfach nur diese Akkus, Ja? Ich…“
„Aber Sie dürfen hier nicht rein.“
Die junge Verkäuferin bleibt hartnäckig.
Mein Kamm schwillt!
„Ni Me Akkus sechs Stück. Die brauche ich jetzt. Und Sie sagen mir jetzt bitte, wie ich da dran komme.“
„Moment, ich schaue gerade mal im System nach.“
Frage mich in welcher Zeit und in welchem Land ich gerade lebe.
„Hallo? Tut mir leid, die haben wir gerade nicht vorrätig.“
Ich ringe nach Luft.
„Bitte? Danke. Einen schönen Tag.“
Fahre heim.
Wann war ich das letzte Mal so geladen?
Kann mich nicht erinnern.
Doch, gestern glaube ich.
Das war Wasserschaden und Jodafon.
Und jetzt das.
Daheim angekommen rufe ich im Elektromarkt an.
„Grüß Gott, was kann ich für Sie tun?“
Der junge Mann aus der Beratung meldet sich.
„War eben schon bei Ihnen. Brauche sechs Telefonakkus, ok? Sie haben ja gerade keine vorrätig. Bitte schicken Sie mir die per Post. Scheint alles recht kompliziert. Ich zahle alles vorher, das geht doch bestimmt, ja?“
„Warten Sie. Ja, die Akkus haben wir da…“
„Bitte was? Eben hieß es noch, Sie hätten keine.“
Das konnte doch jetzt nicht wahr sein.
Was sollte das?
Der Verkäufer ergänzt:
„Wir schicken die natürlich auch, wenn Sie die nicht abholen wollen.“
„Ich sagte es eben. Ich war gerade bei Ihnen vor der Tür. Hätte sie eben nur zu gerne mitgenommen. Es hat geheißen, Sie hätten keine im Vorrat.“
„Oh, das tut mir leid.“
„Ja, dann schicken Sie mir bitte welche.“
Keuche ins Telefon.
So in etwa musste sich Wahnsinn anfühlen…
„Kein Problem. Sie nennen mir Ihre Adresse und wenn das Geld da ist, bekommen Sie die Akkus. Kostet halt vier Euro mehr. Der Versand eben. OK?“
Fühle mich innerlich angespannt.
„Muss wohl. Geht ja nicht anders.“
Der Verkäufer kommt zum Abschluss.
„Und das Ganze geht über Paypal.“
„NEIN!“
Das bin ich.
Könnte sein, dass meine Sicherung gleich durchbrennt.
„Paypal? Ich möchte ganz normal Vorkasse bezahlen.“
„Geht nur mit Paypal. Sie verstehen, Sicherheit und so.“
Meine Stimme wird lauter.
„Sicherheit? Ich habe kein Paypal! Und ich will kein Paypal! Niemals werde ich Paypal haben! Haben Sie gehört?“
„Mh, dann kommen Sie doch vorbei und holen die Akkus…“
„Gerade eben war ich bei Ihnen. Gerade eben! Es hat geheißen, Sie haben diese Akkus nicht.“
Frage mich, wie man das alles aushalten kann.
Mein Sohn steht in der Tür.
Hatte ihn nicht bemerkt.
Er grinst.
Ich nicht.
Sehe seine beschwichtigenden Handbewegungen.
„Mama, ich hab‘ doch ein Paypal-Konto. Ich mach das kurz.“
Könnte ausflippen.
„Nein! Alles Gangster! Ja, mach’s , hab keinen Bock mehr.“
Was tue ich hier gerade?
Wo waren meine Grundsätze?
Trotzdem, niemals würde ich mir Paypal zulegen.
Der Mann aus der Verkaufsberatung gibt sich redliche Mühe.
„Ich schicke die Akkus sofort los, wenn das Geld da ist, ja?“
„In Ordnung. Einen schönen Tag noch.“
Lege auf.
Mein Sohn und ich schauen uns an.
„Danke.“
Mehr als ein Seufzen bekomme ich nicht hin.
Ja, vielleicht sollte man doch lieber gleich im Internet bestellen.
Aber nur bei der heimischen Wirtschaft.
Auf Vorkasse.
Und vorher genauer hinschauen.
Beschließe alle anderen Einkäufe, so gut es geht auf die Zeit nach Corona zu verschieben.
Aufgepasst!
Der Alltag kann es in sich haben.
Entscheide mich, meine Aufmerksamkeit auf die Freude und auf den Spaß zu lenken.
Lege meine Lieblingsmusik auf.
Drehe die Lautstärke hoch.
Tanze!
Spüre, wie es leichter wird.
Immer leichter.
Meine gute Laune kommt zurück.
Hoffe, dass sie bleibt…
Einfach bleibt!
Irgendwann…BLEIBT!
Für immer bleibt!
Mai 2021 Joggen
In wenigen Tagen ist Juni.
Monat April und Mai eigentlich gestrichen.
Dieses Jahr ein einziges Dauerorkantief mit Starkregen.
Sport in Winterkleidung bis Ende Mai.
Wann gab’s das?
Erinnere mich nicht.
Es ist früh am Morgen.
Blicke aus dem Fenster.
Blauer Himmel, Windstille.
8 Grad plus dürften da nichts ausmachen ohne Jacke.
Also rein in die Joggingschuhe.
Laufe los.
Mein Trainingszustand war schon mal besser, spüre das deutlich.
Bekomme ein schlechtes Gewissen.
Denke an meine Trainingseinheiten der letzten Monate.
Der Schweinehund war noch nie fieser als das gesamte letzte Jahr.
Ja, immerhin… bestimmt besser, als viele andere… aaaber dennoch…
Stop!
Hey, jogge einfach! Genieße!
Laufe in der hellen klaren Morgensonne durch die Felder.
Atme die herrliche Frühlingsluft.
Rieche den Duft zarter Blüten.
Atme ein, atme aus.
Es fühlt sich gut an.
Laufen, atmen, den Jetzt-Moment genießen.
Nähere mich einer Abzweigung.
Von rechts kommen zwei Jogger entgegen.
Irgendetwas irritiert mich.
Verlangsame meinen Laufschritt.
Drehe mich um.
Glaube nicht, was ich sehe.
„Ihr rennt mit Maske? Wollt ihr euch fertig machen? Hier ist außer euch kein Mensch, außer mir.“
Oh je, eingemischt, geht mich ja eigentlich nix an.
Die beiden asiatisch aussehenden Männer bleiben stehen, kichern verlegen und ziehen sich die Maske unters Kinn.
Blicken in meine Richtung.
Ok, die rennen vermutlich seit der Vogelgrippe so rum.
Wann war die Vogelgrippe?
Denke nach.
2003, glaube ich.
Mögliche Diagnose:
Langjähriger Sauerstoffmangel.
Auswirkungen noch nicht absehbar.
(Oder doch?)
Jogge rückwärts trippelnd.
Die Männer grinsen unbeholfen in meine Richtung.
Maske unterm Kinn.
Sie entfernen sich langsamen Schrittes in entgegengesetzter Richtung.
Jogge weiter.
Spüre die mangelnde Kondition.
Mit Maske wäre ich nach fünfzig Metern im Sauerstoffzelt gelandet.
Die beiden Männer aus Asien müssen sehr gut trainiert sein.
Drehe meine übliche Runde.
Heute nur die Kleine.
Erneut kommen mir die beiden Männer entgegen.
Weit und breit um uns herum niemand.
Die beiden Männer gehen jetzt langsam.
Tragen die Maske vorm Gesicht.
Na denn…
Bin mir sicher.
Zum Sport treiben, würde ich sicher nicht nach Asien reisen…
Tja, aber wer weiß schon so genau, welch schräge Kuriositäten unsere gewählten Mandatsträger noch so alles für uns parat haben…
Beschließe auf den gesunden Menschenverstand zu setzen.
Den gesunden Menschenverstand.
Der Menschen, in unserem Land.